Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Historischer Hintergrund:
Rainer Maria Rilke schrieb das Gedicht "Herbsttag" (Gedichtband "Buch und Bilder") im Jahre 1902 welches der Epoche des Symbolismus zuzuordnen ist. Rilke hielt sich zu dieser Zeit in Paris auf, wo er an einer Monographie über den Bildhauer Auguste Rodin arbeitete.
Kurze Inhaltsangabe:
In den drei Strophen des Gedichts geht es um den Übergang vom Sommer zum Herbst. Während die ersten zwei Strophen den Veränderungen in der Natur gewidmet sind, erfolgt in der dritten Strophe eine Zäsur auf den Blickwinkel des vereinsamten Menschen.
In der ersten Strophe wird zuerst kurz auf den vergangenen Sommer ("Der Sommer war sehr groß" verwiesen um dann den anstehenden Herbst mit den kürzer werdenden Tage )"Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren") und den Herbstwinden ("und auf den Fluren lass die Winde los") anzukündigen.
Die zweite Strophe widmet sich Rilke dem Herbst hinsichtlich seiner Funktion als Erntezeit("befiehl den Früchten voll zu sein") und ("jage die letzte Süße in den schweren Wein.")
In der dritten und letzten Strophe wechselt Rilke von der Naturbeschreibung (Ausnahme "wenn die Blätter treiben") zur Betrachtung des Menschen ("Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr." ... "und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern") und zwar mit der Betonung auf die drohende Vereinsamung ("Wer jetzt alleine ist, wird es lange bleiben."). Aufgrund der raueren Natur werden die Aktivitäten auch ins Haus verlagert ("wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben").
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